Viele Menschen wisssen gar nicht mehr, was das heißt: Miteinander in den Dialog treten.
Vom 07.-09.07.2023 haben wir mit einer überwältigenden Anzahl von Alumni, die in den letzten 15 Jahren eines unserer Stipendien für die Mediationsausbildung erhalten haben, ein großartiges Wiedersehen feiern dürfen. Wir konnten nicht nur ein abwechslungsreiches Programm bieten, sondern vor allem stand die Begegnung untereinander im Fokus.
Besonders berührend war der Moment, als eine der ersten Stipendiatinnen sich der Gruppe vorstellte. Oder die Erzählung einer heutigen Managerin in einem großen Konzern, die die Ausbildung bei uns als "lebensverändernd" bezeichnete und sehr viel Zustimmung und Beifall erhielt. Es hat uns allen deutlich gemacht, welch besonderer Ort die MAB ist und welche Möglichkeiten und Türen die Ausbildung in mediativen Kompetenzen gerade auch für junge Menschen bietet.
Euer zahlreiches Erscheinen und eure begeisterte Teilnahme haben uns tief berührt. Es war fantastisch, gemeinsam mit Euch nachzudenken, zu diskutieren und bei all den vielen verschiedenen Perspektiven die tiefe Verbundenheit zu spüren, die sich über die Jahre aufgebaut hat.
Eure Energie und Engagment war auch für uns vitalisierend. Es hat uns bestärkt in unseren Bemühungen nicht nachzulassen, gemeinschaftliches Engagement für einen konstruktiven Umgang mit Vielfalt, Differenzen und Konflikten für eine bessere Zukunft zu störken und zu fördern.
Gemeinsam haben wir in einem Welt-Café Format die uns beschäftigenden Fragen in Bezug auf die Rolle der Mediation und ihren Beitrag in der heutigen Welt diskutiert. Waren gemeinsam in der hervorragenden Ausstellung "O Quilombismo" im Haus der Kulturen der Welt und haben uns anregen lassen von alternativen demokratisch-egalitären politischen Philosophien aus der nicht-europäischer Welt.
Das Treffen war inspirierend und bestärkend. Und es war intellkektuell und praktisch produktiv: Als ein Ergebnis des MAB-LAB haben wir einige der Gedanken zusammengefasst, die uns während unseres Treffens beschäftigt haben und weiter beschäftigen.
"Miteinander in den Dialog treten - Stärkung der Zivilgesellschaft als gemeinsame Aufgabe
Es gibt viele Versuche, das Unbehagen in der Demokratie zu erklären. Unabhängig davon, welcher Erklärung man zuneigt, scheint uns die besondere Betonung der individuellen Leistung in der westlich geprägten Kultur und Wirtschaft ein wesentlicher Faktor zu sein. Aus unserer Sicht übersieht diese Perspektive, wie sehr wir Menschen soziale Wesen sind, und jede:r auf das Miteinander aller angewiesen sind. Auch werden Zufällen, die unser Leben entscheidend bestimmen, wie Geburtsort und Teilhabechancen, hierbei nicht ausreichend berücksichtig.
Die Folgen dieses Meritokratie-Paradigmas sind heute allgegenwärtig und zeigen sich in den multiplen Krisen unserer Zeit: Zunehmende Ungleichheit in der Verteilung von Ressourcen und Kapital, weltweite Migration, ungerechte Teilhabe an den Ressourcen unseres Planeten, strukturelle Diskriminierungen, Klimakrise, Kriege und Hungersnöte, der Aufstieg populistischer Bewegungen in den demokratischen Staaten - um nur einige zu nennen. Gleichzeitig müssen wir feststellen, dass die psychischen Erkrankungen unter jungen Menschen in den westlichen Staaten erschreckend ansteigen.
Der Zusammenbruch der Dialog- und Debattenkultur verstehen wir als weiteres Symptom und gleichzeitig auch verstärkenden Faktor für die Krisen. Unabhängig von Erklärungsversuchen erleben wir, dass sich die Menschen in unterschiedlichen Blasen gegenseitiger Bestärkung bewegen, bei gleichzeitiger Diffamierung von anderen Meinungen und Fakten, die nicht ins Weltbild passen. Weiterentwicklung lebt vom Dialog und der zivilen Auseinandersetzung. Dafür braucht es einerseits Kompetenzen, aber auch Strukturen, die in der Lage sind, Räume für gemeinsamen Austausch und konstruktive Auseinandersetzungen zu öffnen. Gleichzeitig erleben viele Menschen sich immer weniger in der Lage auf wichtige, sie betreffenden Dinge einen nennenswerten Einfluss zu haben. Dieser, oft als Ohnmacht, erlebte Zustand drückt sich oft in Frustration, Resignation oder auch Wut aus. Damit entsteht eine höchst widersprächliche Situation: Zur Zeit müssen wir erleben, dass wir uns so schnell und vielfältig austauschen können, wie nie zuvor in der Geschichte der Menscheit und im Ergebnis vor einer völlig zerspaltenen Öffentlichkeit stehen. Einer Öffentlichkeit, die aufgrund eines Diktats der Geschwindigkeit schnell und oft vorschnell Meinungen zu Fakten erklärt und sodann andere Sichtweisen nicht mehr über die Wahrnehmungsschwelle kommen lässt. Diese systemische Maladaption schließt Dialogräume und Menschen verlernen immer mehr, was das eigentlich heißt: in den Dialog treten.
Mit den Prinzipien der individuellen Leistungssteigerung und dem gleichzeitigem Verlust der dialogisch-zivilen Auseinandersetzung scheinen wir die Probleme nicht nur geschaffen zu haben, unter denen wir jetzt leiden, sondern wir verschlimmern sie auch immer noch. Es ist Zeit, anderen Ansätzen Raum zu geben.
Die Krisen, die wir selbst geschaffen haben, können wir nur als eine Menschheit gemeinsam lösen. Es ist sinnlos komplexe, globale Probleme mittels analogen Denkens und Handelns lösen zu wollen. Für uns stellt sich in aller Radikalität die Frage, was ist uns als Gesellschaft ein gutes Miteinander wert? Was für Rahmenbedingungen sind wir bereit, dafür zur Verfügung zu stellen? Denn für uns ist wichtig, dass Miteinander eine Quelle der Inspiration, der Freude, des Austausches und des Genusses sein kann, aus dem Positives für alle entstehen kann.
Wie wir Differenzen, Unterschiede und Konflikte lösen, hängt davon ab, wie wir sie verstehen. Wir sehen enorme Potentiale in mediativen Kompetenzen für ein kooperatives und friedliches Miteinander – im privaten Umfeld genauso wie in der Nachbarschaft, in der Arbeitswelt und im Unternehmen genauso wie für gesellschaftliche und politische Diskurse und Entscheidungsfindungsprozesse. Um diese Potentiale zu nutzen und Vielfalt als Bereicherung zu erleben, reichen Apelle nicht aus. Menschen brauchen dafür nicht nur strukturelle Voraussetzungen, sondern auch ganz konkrete Kompetenzen und Fähigkeiten, die erlernt und entwickelt werden können.
Mediative Kompetenzen umfassen für uns Dialog- und Konfliktfähigkeiten, die unterstützen, Vielfalt und Unterschiedlichkeit als Bereicherung zu erleben. Sie umfassen außerdem ausgeprägte Strukturierungskompetenzen und eine konsequente Ressourcenorientierung. Mediative Kompetenzen setzen auf einem Menschenbild auf, das davon ausgeht, dass Menschen eigenverantwortlich handeln, lern- und entwicklungsfähig sind und soziale Verantwortung übernehmen können. Die Entwicklung, die dazu geführt hat, dass wir im wesentlichen Konsumenten sind (und impliziet aufgefordert, unsere Konsumentenmacht zu nutzen, um ökonomisch-politische Veränderungen zu bewirken) und weniger Bürger:innen, die einen aktiven Part am Gemeinwesen haben, bedarf einer Korrektur. Die Zivilgesellschaft muss aktiv und gezielt gestärkt werden. Dazu bedarf es einer neuen politischen Ökonomie der Bürger:innengesellschaft.
Kooperation ist dabei der Schlüssel zum Erfolg und eine dauerhafte Aufgabe für alle Beteiligten. Mit mediativen Kompetenzen kann es in verschiedenen Kontexten gelingen, Kooperation auf Basis eines gemeinsamen Fundaments gegenseitigen Verstehens zu initiieren. So können die Stärken eines kooperativen Miteinanders genutzt werden.
Mediation stellt die Kompetenzen zur Verfügung, die ein anderes Miteinander möglich machen. Dafür braucht es strukturelle Veränderungen und eine politische Ökonomie, die Menschen nicht darauf beschränkt, Konsument:innen zu sein, sondern die die Voraussetzungen dafür schafft, dass wir alle auch Civil Citizen, Citoyens, Bürger:innen sind, die am Gemeinwohl orientiert partizipieren und sich einbringen können und wollen.
Die Praxiserfahrungen als Mediator:innen lassen uns erleben, welchen enormen positiven Nutzen mediative Kompetenzen stiften. Wir erfahren, dass damit bessere Zukünfte entstehen. Wir schaffen Räume, die Menschen ermöglichen ihre Ressourcen zu nutzen, um nachhaltige Lösungen zu schaffen, die von allen gelebt werden. Es stärkt uns, dass wir uns in unseren Bemühungen vereint wissen mit allen, die mediative Kompetenzen tagtäglich im verschiedensten Rollen, Formaten und Bereichen - Wirtschaft, Gesellschaft und Politik - einsetzen.
Mediative Kompetenzen sind unverzichtbar, damit wir die für die demokratische Gesellschaften essentielle Dialog- und Auseinandersetzungskultur wieder beleben können.
Als junge Mediator:innen wollen wir Verantwortung übernehmen, sowohl in der Arbeitswelt als auch mit Blick auf die multiplen globalen und lokalen Herausforderungen. Hierbei übernehmen wir bewusst auch Verantwortung für uns selbst. Wir wollen unsere Kompetenzen einsetzen, um ein neues Miteinander zu ermöglichen. Ein Miteinander, in dem die unterschiedlichen Perspektiven gehört und respektiert werden, braucht einen sicheren Rahmen und offene Räume, in denen es nicht um Dominanz und Gewinnen geht, sondern darum, dass das Ganze Mehr sein wird als die Summe seiner Teile. Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass Kooperation und Dialog hierfür der Schlüssel ist und dass wir mit unseren mediativen Kompetenzen hier einen wichtigen Beitrag leisten können und werden.